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Freitag, August 8, 2025

Essen auf Rädern

Beitragsbild: © Michael Schottenberg / Kolumne: Michael Schottenberg

Einer meiner Sehnsuchtsfilme heißt „Lunch Box“, eine zauberhafte Geschichte rund um, nebbich, die indische Küche. Eine zentrale Rolle darin kommt den „Dabbawalas“ zu, Botenläufer, deren Aufgabe es ist, die von liebeskranken Frauen mit größter Sorgfalt am häuslichen Herd zubereiteten Speisen an ihre Angebeteten zu überstellen. In Indien gilt Herstellung und Versandt von Selbstgekochtem als Herzensversprechen. In Mumbai, bei geschätzten zwanzig Millionen Einwohnern, ist die Logistik der täglichen Essensaustragerei höhere Mathematik. FEDEX, UPS und DHL könnten hier die Schulbank drücken. Und sie tun es auch. Die Kollegen vor Ort nämlich gehören einer unteren Schicht an, sie sind Analphabeten. Schon die Codierung der Henkelmänner hat’s in sich: Kombinationen aus Zahlen und Zeichen.

Kurz vor Zwölf. Bahnhof Churchgate. Ich liege auf der Lauer. Dosen knallen auf den Asphalt. In Windeseile sortieren sie die Dabbawalas nach Wohngebieten. Ein Blechgebirge faltet sich auf. Gewiss wartet bereits ein, von der Herstellerin der Liebesgaben angeschmachteter Jüngling auf die heutige Sinnesattacke. Schüchtern sollte der junge Mann schon sein, darauf legt meine Phantasie Wert. Sendet er ihr ein hastig hingekritzeltes Poem zurück, das er im Bauch des von Chapati-Resten sauber getunkten Blechkerls deponiert? Die Göttin irdischen Genusses am Beginn der Nahrungskette sehnt wohl schon den Augenblick herbei, da sich der errötende junge Mann dem verführerischen Duft ihrer Speisen hingibt. Zehn nach Zwölf. Die weißbemützten Dabbawalas traben los, ich hinterdrein. Manche verschwinden in Seitengassen. Alle wissen um den Wettlauf gegen die Zeit. Der in seinem stickigen Büro Schmachtende benötigt Seelenfutter. Halb Eins. Eine Ewigkeit, so kommt es mir vor, haste ich schon durch Mumbai. Ich bin am Ende meiner Kraft. Zweiundvierzig Krügeln im Schatten. Endspurt durch die Madame Cama Road. Die Läufer halten an. Zwölf Uhr achtunddreißig. Einer der Träger entwirrt die Dosen, ordnet sie ein letztes Mal, dann pflückt er eine Büchse mit besonderer Sorgfalt heraus, zwinkert mir zu und verschwindet im Hausflur. Der Moment ist da. Bald schon vereint die beiden jungen Liebenden: Duft (vorerst), Vollkommenheit (später) und Erfüllung (endlich). Der Überbringer irdischer Genüsse hastet hinauf in den ersten Stock. Ich blicke ihm nach. Heute darf ich teilhaben am Kreislauf allzu menschlicher Sehnsucht. Mein Blick fällt auf ein Messingschild: „Thai Massage, First Floor“.  

Das Geheimnis der Henkelmänner ist gelüftet: Halbseidenes Licht fällt aus dem ersten Stock herunter auf die Madame Carma Road. Die Dabbawalas machen sich auf den Heimweg. Ich ebenfalls. Wenn auch ein bisschen nachdenklich.

Michael Schottenberg reist mit dem Rucksack durch die Welt. schottisreisetagebuch.at

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