Aus dem Reisetagebuch von Michael Schottenberg: Auf den Inseln der Ägäis ist Stress ein Fremdwort. Zur Verständlichkeit genügt oft nur ein einziger Begriff.
Kein Zweifel, ich gehöre der Familie der Regenpfeifer an: Watvögel, von denen die größten doppelt so groß sind wie die kleinsten und die, nomen est omen, auf den Regen pfeifen. Wir sind Zugvögel. Wenn in der Heimat die niederschlagsreiche Zeit beginnt, der Sommer, verlassen wir das nasse Nest und ziehen gen Süden. Was mich betrifft, seit vierzig Jahren. Sonne und Meer sind meine Lebenspartner. Kaum ziehen im Juni die ersten Regenwolken übers Land, schließe ich mich der nächstbesten Formation an. „Ägäis“ steht auf den Schwanzfedern meiner Vorderleute. Die Inseln, auf denen ich Quartier nehme, sind grundverschieden und doch immer gleich – vor allem aber abseits der Touristenströme. Gibt’s nicht? Gibt’s. Begib dich auf die Suche, Wanderer. Dein Wortschatz für die nächsten Wochen sollte zumindest ein Wort umfassen: „Kalá!“.

sobald bei uns im Juni der erste
Regen fällt – in den Süden.



Dörfern ebenso wenig fehlen wie ein
Kafeneon – ein traditionelles griechisches Kaffeehaus.


Im Kafeneon auf der kleinen Kykladeninsel ist um diese Zeit wenig los. Es ist viel zu früh. Kurz vor neun liegt die Welt noch im Tiefschlaf. Ich sitze im Schatten eines großen Baumes, dem Tummelplatz tausender von Zwei zu Zweig hüpfender Spatzen, die die am Vorabend liegengebliebenen Brotkrumen aufpicken. Ein überirdisch feiner Geruch liegt über der Platia: Im Haus nebenan beendet der Bäcker sein frühes Tagewerk. Die Vögelchen werden auch am nächsten Tag alle Schnäbel voll zu tun haben. Der Kellner Stavros stellt die Kaffeetasse vor mir auf den Tisch. „Kalá!“, was so viel heißt wie „Auch schon da“. Der Ellinikó ist herrlich: heiß und bitter, ganz so, wie’s gehört. „Türkischer“ heißt er ja eigentlich, aber so sollte man ihn hier lieber nicht nennen. Auf dem wackeligen Blechstisch steht ein roter Aschenbecher mit der Aufschrift CINZANO. Die Buchstaben sind schon verblasst. Stavros beobachtet mich mit Argusaugen. Seit Jahren versuche ich ihm das Teil abzuluchsen.
Mein Höchstgebot datiert aus der Zeit, als man noch mit Drachmen bezahlte. Nach der Währungsreform erhöhte ich mein Angebot auf zehn Euro. Stavros hob nur den Kopf und gab einen scharfen Zischlaut von sich: „Kalá!“ („Abgelehnt!“). Der Aschenbecher wird wohl für immer das unerreichbare Ziel meiner Begierde bleiben. Stavros und ich, wir sind stur. Wir geben nicht nach. Er nicht mehr, ich nicht weniger. Der Souvenirhändler tapsst über den Platz, öffnet die windsichere Türe seines Ladens und hängt verblichene Postkarten, nebst einigen Schwimmreifen an die Hausfassade. Gegenüber des Kafeneons tritt der Apotheker ins Freie, streckt sich, winkt herüber und verschwindet gleich darauf wieder zwischen Salben und Tinkturen. Ein Dorfpolizist schlendert über die Straße, streicht sich den Schweiß von der Stirn und nimmt auf der Steinmauer vor der Kirche Platz – von hier aus hat er den besten Überblick. Viel tut sich gerade nicht im Revier, weswegen er bald schon in die Horizontale abtaucht. Ich lege eine Münze neben den Aschenbecher und halte Ausschau nach Stavros. Sein dunkler Haarschopf taucht in der Türe auf. „Kalá?“ („Alles gut?“). Er vergewissert sich, ob der Aschenbecher noch auf seinem Platz steht, dann brummt er ein leises „Kalá?“ („Du gehst schon?“). Ich nicke, worauf er erwidert: „Kalá“ („Na schön“).
Er verschwindet nach drinnen und nimmt neben der Küche Platz. Gleich darauf höre ich leises Schnarchen. Ich überquere die Platia und begebe mich zu meinem Blechhaufen, der einmal eine Mopete war. Den immerwährenden Kampf um den Aschenbecher habe ich auch heute verloren. Aus dem Inneren der benachbarten Apotheke tönt ein müdes „Kalá!“ („Bis morgen!“). Ich starte den Motor und puste dem Polizisten dabei ein Wölkchen Super ins Gesicht. Der erwacht und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Kalá!“, murmelt er, was bedeutet: „Na, du bist mir einer!“ …
