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Sonntag, Dezember 22, 2024

Die Band, die es leider nie gab – Buchtipp von Helmut Schneider

David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Kann es sein, dass man zum Fan einer Band werden soll, die es nie gegeben hat? Der Brite David Mitchell – seit seinem von Tom Tykwer verfilmten Bestseller „Der Wolkenatlas“ in der Liga der Autoren, die weltweit beachtet werden – entwirft in seinem neuen 750-Seiten-Wälzer eine alternative Pop-Historie mit ebendiesem Ziel. Denn natürlich will man spätestens am Ende gerne die Songs der vier sympathischen Mitglieder seiner fiktiven Londoner Band „Utopia Avenue“ tatsächlich hören. Dass Mitchell seine Band nach nur zwei Alben unter dramatischen Umständen wieder auflöst, ist da nur ein schwacher Trost. Viel zu viel Emotion hat man als Leser da bereits in die Folk-Sängerin Elf, den Blues-Bassisten Dean, den Jazz-Drummer Griff und den Gitarrengott Jasper investiert als dass man nicht zumindest nach Musik-Alternativen im Netz (eine jazzige Rockband mit einer Folksängerin?) suchen würde. Das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche dieses Romans, der freilich zumindest auf jeder Seite zu unterhalten vermag.

Das liegt vor allem daran, dass Mitchell jedem seiner Hauptpersonen genügend Raum für Entwicklung gibt. Da ist etwa der unter schwierigen sozialen Verhältnissen bei seinem Alkoholiker-Vater aufgewachsene Bassist Dean, der als einziger der Band anfällig für den Lohn des Erfolgs ist und vor allem weiblichen Versuchungen nicht widerstehen kann. Da ist die an die Ideale der Zeit glaubende Elf, die auch dann nicht an das Böse im Menschen glauben will als sie mit einem Bösen liiert ist und da ist vor allem der Niederländer Jasper de Zoet, der als illegitimer Sohn einer reichen Familie an schweren psychischen Problemen leidet. Denn in Jasper lebt sozusagen ein anderer, der sich mit Klopfzeichen bemerkbar macht und ihn in den Wahnsinn zu treiben versucht. Mitchell spielt dabei mit seinen Fans, denn zur Auflösung dieser Geschichte verweist er auf seinen früheren Japan-Roman „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, in dem ein vampirhafter Mönch sein blutiges Unwesen treibt. Es ist nicht die einzige Reverenz des 1969 in Southport geborenen und inzwischen in Irland lebenden Autors an frühere Werke, Mitchell schafft sich einen eigenen selbstreferenziellen Hintergrund – glücklicherweise muss man als Leser aber nicht all das kennen, um „Utopia Avenue“ zu verstehen.

Was Mitchell in diesem Roman auch gut hinbekommt ist popkulturelles Namedropping. Die Band und ihr schwuler kanadischer Manager treffen so gut wie alle umstrittenen Helden der 60er-Jahre – von John Lennon, Jimmie Hendrix, Leonard Cohen und David Bowie bis zu Joan Baez, Francis Bacon und den später erst entlarvten Vergewaltiger und einflussreichen DJ Jimmy Savile. Und natürlich gibt es auch gut recherchierte Szenen aus dem damaligen noch voll analogen Alltag. Mit Dean erleben wir gleich am Anfang das harte Los von Musikern, die noch ihre Gitarre abstottern müssen, während sie in miesen Zimmern wohnen, in denen die Vermieterin ausdrücklich Iren und Schwarze nicht reinlässt. Und die durchaus nicht ungefährlichen Auftritte in der englischen Provinz – als die Band noch völlig unbekannt ist –bleiben auch im Gedächtnis.

Nun, wer die Sixties mag, wird in „Utopia Avenue“ wirklich gut bedient – von den Partys der Reichen und Schönen über das Chelsea Hotel bis zu Kalifornien kommt wirklich ein Gutteil aller Ikonen vor. Doch die Frage, warum mir der Autor dies alles erzählt, kann ich nicht befriedigend beantworten. Die utopische Geschichte von Jaspers Psychose ist dafür zu schwach und zu wenig ausgeführt. Immerhin gibt es am Ende zur Draufgabe auch noch eine tragisch-komische Überraschung in San Francisco.


David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

David Mitchell: Utopia Avenue
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Rowohlt Verlag
752 Seiten
€ 26,95

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