Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“.
Miša und Alan sind Geschwister und wachsen in einer slowakischen Industriestadt auf. Kurz vor dem Zusammenbruch des Ostblocks flieht der ältere Alan über dir Grenze und wird Hilfsarbeiter in Hamburg. Nach einem schlimmen Arbeitsunfall zieht er zu den Eltern, die inzwischen nach der Wende in Wien leben. Er studiert Medizin und wird Orthopäde am AKH. Aber trotzdem er wie seine Schwester Miša perfekt Deutsch spricht und im Job einer der besten ist, scheint ihm etwas zu fehlen. Nachdem er unverschuldet für eine schadhafte Prothese den Kopf hinhalten muss, dafür aber eine viel besser bezahlte Stelle in einer anderen Klinik angeboten bekommt, verschwindet er plötzlich und taucht – ziellos durch Südosteuropa fahrend – unter. Eltern, Schwester und Freundin sind besorgt.
„Wir werden fliegen“ geht dort weiter wo Gregors erster Roman „Das letzte rote Jahr“, das die Jahre vor der Wende in Žilina aufgehört hat. Schon dieses Buch war eine bemerkenswerte Talentprobe.
Susanne Gregor kennt die mentale Heimatlosigkeit ihres Geschwisterpaares aus eigenem Erleben, denn sie kam selbst als Kind aus der Slowakei nach Österreich. Die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West bestehen für sie auch noch mehr als 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Vasallenstaaten. Viele der einstigen Migranten sind inzwischen zwar bestens integriert, aber wer interessiert sich etwa heute bei uns, wie die Familien der Pflegerinnen aus Rumänien leben?
„Wir werden fliegen“ ist ein Roman über Familie und Identität. Einst stellten sich Miša und Alan – in einem Swimming-Pool in einem Ostblockhotel – den Westen als ein Reich ohne Grenzen und mit einem reich gedeckten Tisch für alle vor, wo immer ein Pool bereitstehen würde. Aber Freiheit ist auch bei offenen Grenzen nicht leicht zu haben. Die sensible Miša ist weit weniger geradlinig in ihren Zielen als ihr Bruder und muss gerade in ihren Beziehungen einiges einstecken. Doch dafür ist sie etwas ehrlicher zu sich selbst.
Susanne Gregor erzählt ebenso spannend wie geschickt, indem sie das Verschwinden Alans als Cliffhanger gleich an den Beginn des Romans stellt und oft auch aus der Sicht von Nebenfiguren – wie der Diplomatentochter Nora – Alans Freundin – auf die Handlung blickt.
Ein kluger Roman, der uns auch zeigt, dass das Projekt Europa in einigen wichtigen Bereichen noch ganz am Anfang steht.
Susanne Gregor: Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt
254 Seiten
€ 24,70