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Aus meinem Reisetagebuch. Im Südwesten Marokkos offenbart sich Reisenden ein besonderer Blick – Ziegen, die auf Bäumen stehen.
Der Arganbaum, ein Relikt aus jenen Zeiten, in denen riesige Echsen über die Welt schlichen, ist ein urtümliches Gewächs mit kurzem Stamm und breitem Dach, dessen Krone allerdings bis zu zwölf Meter hoch wird. Ursprünglich gedieh es in den Wäldern rund ums Mittelmeer, heute beschränkt sich sein irdisches Dasein auf den Südwesten Marokkos. Das Gebiet, das an die Stadt Agadir grenzt, wurde 1998 zum „Biosphärenreservat der UNESCO“ erklärt. Zu ihrem Schutz wurden die greisen Pflanzen ortsansässigen Familien zugesprochen, die diese wie ihre Augäpfel hüten, sind doch ihre Abfallprodukte Goldes wert: Die Nüsse dienen zur Gewinnung des überaus kostbaren, weil seltenen Arganöls. Aus dreißig Kilogramm Rohmaterial pressen fleißige Bäuerinnen einen Liter des goldenen Saftes. Verpflanzen allerdings lässt sich der Wunderbaum nicht, alle bisherigen Versuche, ihn in anderen Teilen der Welt anzusiedeln, sind kläglich gescheitert.
Das Nüsslein hat die Form einer Olive, die Größe einer Dattel und besitzt eine grün-gelbliche Farbe. Unter dem Fruchtfleisch verbirgt sich der Kern mit einigen wenigen ölhaltigen Samenkörnern, die zwischen Juli und September reifen. Was Wunder der Wunderpflanze zuerst Wundersauren: achtzig Prozent ungesättigte, zwanzig Prozent gesättigte Fettsäuren, Ölsäuren, Linolsäuren sowie das für den menschlichen Organismus unerlässliche Vitamin E, das das Herz-Kreislauf-System schützt, den Cholesterinwert senkt, den Blutzuckerspiegel reguliert und Nachtschweiß, Herzrasen und Hitzewallungen erst gar nicht zulässt. Auch die Kosmetikindustrie reibt sich die Hände: Der Teint wirkt jünger und frischer, steigert das Öl doch die Durchblutung. Ein Leben ohne Arganöl, das erfährt der Marokko-Reisende an jedem einzelnen der unzähligen Straßenstände, ist kein Leben. Und er traut seinen Augen nicht. Denn auf dem urzeitlichen Geäst wachsen neben den Wundernüssen auch grasende Ziegenherden. Also hält man an, um den rar Der Arganbaum soll bereits seit 80 Millionen Jahren in Marokko wachsen. Heute wird das aus seinen Nusskernen gewonnene Öl an unzähligen Straßenständen zum Verkauf angeboten.
ERNTE. Des Rätsels Lösung offenbart sich erst bei näherem Hinsehen: Menschen kommen nicht an die tollen Früchte, sind doch die Äste und Zweige des seltsamen Baumes mit Stacheln übersät, so dass niemand anderer als Erntehelfer in Frage kommt als die putzigen Allesfresser der Wüstenbewohner. Nur sie sind in der Lage, sich in Baumkronen vorzuwagen, um sich an Blättern und Nüssen gütlich zu tun. Wie aber kommen die Berberinnen letztlich doch noch an die begehrten Früchte? Nichts einfacher als das: Die Tiere verdauen das Fruchtfleisch, das in ihrem Magen-, Darmtrakt verbleibt, die Kerne aber scheiden sie aus. Darauf lauern die Frauen und machen sich ans Eingemachte. Sie trocknen den Kot, knacken die unverdauten Kerne, rösten die darin befindlichen Samenkörner, reichen sie mit Wasser und rühren, kneten und pressen sie so lange, bis sich das Öl absetzt. Das Wunder der Natur und das letzte Rätsel vom Ziegenbaum klärt sich endgültig auf, wenn sich nach erfolgtem Foto ein irdisches Händchen ins Bild schiebt, das für den wundersamen Anblick eines veritablen Ziegenrudels in der Krone eines Arganbaumes nichts als höchst profanes Bakschisch einfordert. Die Schöpfung kennt wahrlich keine Gnade. Warum auch? Es gäbe sie nicht mehr, machte sie nicht letztlich auch aus sich selbst Flüssiges.
