Er setzte gerade mit dem Rasiermesser in der Nähe meiner Halsschlagader an, als es plötzlich stockdunkel wurde. Stromausfall. Jedes Mal, wenn der Abend in jenem Februar in Damaskus anbrach, schwächelte die Energieversorgung der syrischen Hauptstadt. Obwohl es bitterkalt war, geriet ich ins Schwitzen. Einen Augenblick später hüpfte ein schwaches Licht neben meinem Kopf hin und her. Es war der Sohn des Barbiers. Der Kleine drückte stetig auf ein globiges Mobiltelefon und leuchtete mein Gesicht aus, damit sein Vater die Rasur vollenden konnte. Der Meister strich mit der scharfen Damaszener Klinge fast blind über meine Haut, ohne mich zu schneiden. Zum Abschied drückte mich der stämmige Mann an sich, obwohl wir uns kaum verständigen konnten. Ich denke oft an ihn. Sein Laden in der Altstadt befand sich in der Ananiasgasse (ebendort ereignete sich die biblische Geschichte, in der Saulus zu Paulus wurde). Ich wohnte ganz in der Nähe bei Theresa, einer älteren, alleinstehenden Dame, die mir das kleine Zimmer in ihrem Hinterhof vermietete. Der erste Wintereinbruch seit elf Jahren überraschte Damaskus in diesen Tagen. Der Wind pfiff eisig vom Qasuyin Berg herunter und der Ölofen in meinem kleinen Zimmer rußte so stark, dass meine Nase jeden Morgen verstopft war. Für eine heiße Dusche gab es nur alle paar Tage genug Wasser. Das war für einen verwöhnten Europäer wie mich eine neue Erfahrung. Aber es machte mir nichts aus. Denn ich fühlte, wie die Stadt zusammenrückte. In den Straßen schenkten fliegende Händler heißen Tee aus, die Bettler wurden in den Restaurants auf eine Mahlzeit eingeladen und im Café Nofara wärmte der Geschichtenerzähler die Zuhörer mit seinen Märchen.
Anfang 2008 hatte ich genug Urlaubstage angesammelt, um für einen ganzen Monat in die am längsten besiedelte Stadt der Welt zu reisen. Heute quälen mich die schlechten Nachrichten und die Ungewissheit über Theresas und aller anderen Schicksale. Rafik Schami erzählte mir, dass er jeden Morgen mit dem Herzen in Damaskus sei. Ich bin es auch. Tagtäglich.