Schon wieder außer Atem, schon wieder zu spät. Ich stolpere unbeholfen die Treppen zum U-Bahn Gleis hinunter, wo die U4 gerade einfährt. Geschafft. In den Öffis geht es mittlerweile wieder belebter zu, als in den letzten Corona-geprägten Monaten und ich kann endlich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung, dem „Leute schauen“, nachgehen. Leider gibt mir das nicht viel. Ich sehe nur Haaransatz an herunter gebeugten Köpfen, darunter die FFP2-Masken, die Blicke sind starr aufs Smartphone gerichtet. Es wird eine lange Fahrt, also tue ich es den Leuten gerne gleich und öffne meine online Schach-App.
Zugegeben, ja, auch ich habe den Netflix-Hit „Queensgambit“ gesehen und bin widerstandslos dem Schachwahn verfallen. Auch ich habe mich mitreißen lassen, von der tragischen Geschichte der Elisabeth „Beth“ Harmon und habe ihren Werdegang zur Schachmeisterin mit Spannung verfolgt. Außerdem habe ich schnell entdeckt, dass das Vollblut-Schachtalent Harmon und Ich zwei Eigenschaften teilen: die Liebe – jedoch nicht das Talent – zum Schachspiel und ein Faible für schöne Schachbretter. Ich habe gleich das alte Schachbrett aus der untersten Ecke des Spielkastens gekramt und abgestaubt, ja mir sogar ein Miniatur-Schachbrett – wohlgemerkt mit magnetischen Figuren, auf diesen Pragmatismus bin ich stolz – im Format 12×12 cm gekauft, damit ich immer für ein Schachspiel „to-go“ bereit bin, falls ich spontan auf der Straße herausgefordert werden sollte. Jetzt aber, in der U-Bahn am Weg zur Endstation Hütteldorf, habe ich keinen geeigneten Partner und muss mich deshalb wieder an mein Smartphone und die online Player richten.
Meine Spielpartner haben noch keinen Zug gemacht – blöd. Was jetzt? Da bleibt nur eines: neue Partner suchen. „Was hat der Lockdown aus mir gemacht…“, denke ich mir. Früher wäre ich mit Freunden in der U-Bahn gesessen oder hätte lautstark und euphorisch telefoniert, eventuell sogar dazu gestikuliert – ja, einer dieser verhassten Menschen war ich, und ich stehe dazu. Jetzt ist mein bester Freund dieses Altherrenspiel Schach. Nichts ist unsexier als zu wissen, dass es schlecht ist, wenn die Bauern auf E4 und E5 ziehen, die Pferde auf F3 und C6 springen und dann der Läufer auf C4 positioniert wird.
Endstation Hütteldorf, wir fahren ein. Ich schließe die App und stehe auf. Der Spielpartner, mit dem ich online zusammengewürfelt worden bin, war eh nicht gut. Beim Aufstehen sehe ich, dass der junge Herr, der vis à vis von mir mit braun-lockigem Haaransatz und klassisch weißer FFP2-Makse – das zeugt von starkem Pragmatikertum – eine Schach- App offen hat. Uuui und da zieht er mit der Dame auf F3, schwierig in seiner Position. Ich kann mir nur um ein Haar verkneifen zu sagen: „Heeeey du… wie heißt du? Also nicht „in echt“ – sondern auf chess.com. Kann ich dich adden? Für die nächste U-Bahn Fahrt dann. Und übrigens, nicht das mich jemand gefragt hätte, aber der bessere Zug wäre gewesen… “.
@beginnerchessclub Evan’s gambit, the best line in chess. #fyp #viral #girlfriend #single #OneStepCloser #chess
Ich bin etwas schrullig geworden. Zum Glück konnte ich mir den spontanen Schach- Angriff verkneifen und habe den netten Herren vor meiner Schrulligkeit bewahrt. Trotzdem frage ich mich, wie er wohl heißt. Also nicht auf chess.com, sondern „in echt“. Vielleicht Klaus, vielleicht Peter, vielleicht auch Klaus-Peter. Neue Bekanntschaften sind diese Tage bekannterweise rar… Möglicherweise bringt mir mein neugewonnenes Faible für Schach ja demnächst eine nette U-Bahn Bekanntschaft. Wir können nur hoffen. Bis dahin: Hallo, ChessPlayer/User13853!
Seid ihr auch dem Schach-Wahn verfallen und habt Lust an einem echten Schachturnier teilzunehmen? look! und „Frau Schach“ veranstalten heute von 14-22:00 ein Schach Event inklusive Livestream im Café Landtmann. Alle Infos und Details zur Anmeldung findet ihr hier.
