Nichtwähler haben mitunter gute Gründe für die Verweigerung ihres Stimmrechts. Viele finden keine Partei, mit der sie sich identifizieren können oder halten deren Spitzenkandidaten für inkompetent, für andere ist überhaupt das Parteiensystem nicht basisdemokratisch genug, wieder andere erinnern sich an gebrochene Wahlversprechen oder kritisieren die Mitfinanzierung von Wahlkämpfen durch Steuereinnahmen. Wir meinen: Bei den kommenden Wahlen in Wien ebenso wie auf Bundesebene spricht überwältigend viel dafür, an die Wahlurne zu treten. Hier der Versuch einer Gegenargumentation.
Blau in der Regierung gehört verhindert. Die Prognosen für die FPÖ sprechen eine ebenso deutliche Sprache wie ihr Spitzenkandidat. Sie wollen Ihren Enkelkindern nicht einmal erzählen müssen, dass Sie gegen den Aufstieg eines Mannes, der offen gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ eintrat und gegen „linkslinke Gutmenschen“ hetzte, sowie seiner ständig über den rechten Rand hinaustretenden Parteikollegen nicht einmal zu verhindern versuchten. Stellen Sie sich vielleicht vor, was auf lange Sicht das Schlimmste ist, das passieren kann. Es ist wahrscheinlich noch schlimmer, als Sie denken.
Niemand ist unpolitisch. Es mag sein, dass Politik Sie noch nie so wirklich interessiert hat, dass Sie am Sonntag lieber zum Brunch gehen und längst den Pastinaken-Mandarinen-Salat im urbanen Hip-Lokal an der Ecke probieren wollten. Vielleicht finden Sie auch das Theater in der Josefstadt weitaus spannender als das reale Politkabarett. Nur macht Sie das noch lange nicht unpolitisch. Denn die Entscheidungen derer, die Sie auf politischer Ebene vertreten, wirken sich auf fast alle Bereiche Ihres Alltags aus, ob Sie wollen oder nicht.
Ihre Stimme zählt. Rechnen Sie sich das doch mal aus: Im Bezirk Alsergrund zum Beispiel werden bei den Bezirksvertretungswahlen aliquot zur Einwohnerzahl 54 Mandate besetzt. Bei einer Wahlberechtigtenanzahl von ca. 31.000 Personen und einer (noch hypothetischen) Wahlbeteiligung von 65 % kommen gerade einmal 373 Stimmen auf ein Mandat. Sie haben vermutlich mehr Facebookfreunde, die ähnliche Ansichten vertreten wie Sie.
Wählen ist Freiheit. Damit ist nicht die Freiheit als Konzept im philosophischen Sinne gemeint, sondern es handelt sich um eine von vielen kleineren, institutionalisierten Freiheiten, die das demokratische System bereithält und in seinen Grundgesetzen verankert hat. Meinungsäußerungsfreiheit gehört dazu, auch etwa Aufenthalts- und Glaubensfreiheit. Nun beinhaltet diese Freiheit natürlich ebenso, ihre Inanspruchnahme zu verweigern. Zu bedenken ist aber, dass der Fortbestand vieler Freiheiten, an die wir uns gewöhnt haben, im Falle der zunehmenden Regierungsbeteiligung einer benannten Großpartei nicht als gesichert betrachtet werden darf. Wählen kann also Wahlen retten.
Wählen gibt Profil. Wer wählen geht, trifft die schwierigere Entscheidung: Er selektiert zwischen einer kunterbunten Ansammlung von Parteien und Kandidaten, über die viele sagen, dass sie sich eigentlich gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Das kann gut tun – nicht nur denen, für die es allgemein schwer ist, sich zu entscheiden. Und übrigens: Wenn Sie Ihre Wahl hinterher bereuen, können Sie immer noch behaupten, Sie hätten Ihr Kreuz bei einer anderen Partei gemacht. Oder Sie reden einfach gar nicht darüber, denn es kann Sie niemand dazu zwingen. Das ist ja das Gute an der Demokratie.
Sie können auch Weiss wählen. Das besonders Problematische am Nichtwählen ist, dass Ihre nicht abgegebene Stimme denjenigen zugutekommt, die Sie nicht unterstützen wollten. Ein bisschen anders verhält es sich mit dem entschiedenen Weißwählen, also mit der Abgabe eines ungültigen Wahlzettels, denn Ihre Stimme wird als deutlicher Protest registriert und macht sich in der absoluten Sitzverteilung bemerkbar, wenn auch nicht in den Mandatsverhältnissen.
Wer gewählt hat, darf auch jammern. Wer nicht wählen geht, dem fehlt hinterher die Berechtigung, sich zu beschweren: über das Wahlergebnis, nicht eingehaltene Wahlversprechen oder die Getränkerechnung des Kanzlers. So richtig im gemeinsam zelebrierten wienerischen Sudern aufgehen können aber jene, die ihr Kreuz gemacht haben, bei wem auch immer. Wobei: Ganz vielleicht haben Sie ja hinterher sogar etwas zu feiern.