Guillermo Arriaga gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Drehbuchautoren („Amores Perros“, „21 Gramm“ oder „Babel“) und Schriftsteller Mexikos. Der nun in deutscher Übersetzung erschienene 800-Seiten-Roman „Das Feuer retten“ erhielt 2020 den prestigeträchtigen „Premio Alfaguara de Novela“ und rangierte ein Jahr lang auf dem ersten Platz der mexikanischen Buch-Charts. Es ist die Geschichte einer Liebe zwischen verschiedenen Klassen, die es eigentlich nicht geben kann – so aussichtslos ist sie.
Die aus besten Kreisen stammende, wohlhabende Tänzerin Marina Longines – verheiratet mit einem braven, erfolgreichen, aber faden Mann und Mutter dreier Kinder – lernt bei einem Auftritt mit ihrer Tanzgruppe im Gefängnis den wegen mehrfachen Mordes verurteilten Indio José Cuauhtémoc kennen. Der ist aufgrund einer traumatisierten Kindheit mit einem Kämpfer für Indio-Rechte als Vater allerdings hochgebildet und kennt sich bestens in der Welt der Kultur und Bildung aus. Lange Zeit kann Marina ihrer Liebe frönen, inklusive Sex im Gefängnis – wenn man die richtigen Menschen schmiert, geht in Mexiko fast alles. Nur die engsten Freunde wissen Bescheid, nicht aber ihr Mann. Wobei die Geschichte von Tag zu Tag komplizierter wird, denn JC – wie José Cuauhtémoc genannt wird – hat eben eine kriminelle Vergangenheit, die ihn einholt. Er ist nämlich schon zum zweiten Mal wegen Mordes verurteilt. Das erste Mal hat er seinen dementen Vater, der ihn bis zum letzten Atemzug zu quälen versuchte, angezündet. Und wieder in Freiheit geriet er trotz redlichen Bemühens über einen Freund mitten in einen Narcos-Bandenkrieg. Leider vergnügt er sich auch mit der Freundin des Freundes als dieser in die Berge flüchten muss. Als dieser dahinterkommt, verfolgt er JC mit blankem Hass. „Das Feuer retten“ ist auch ein veritabler Rache-Thriller wie man den Roman überhaupt auch als eine etwas kolportagehafte Narcos-Räuberpistole lesen könnte. Arriaga erzählt im Original in einem mexikanischen Unterschichts-Slang an dem sich die deutsche Übersetzung von Matthias Strobel mittels deftigem Vokabular und vielen englischen lautmalerischen Phrasen herantastet. Politisch korrekt kann das natürlich niemals sein, bei einigen Beschreibungen von Frauen zuckt man richtig zusammen und auch die Sexszenen sind in ihrer Ausführlichkeit deutlicher als man das als Leser wünscht.
Das große Plus des Romans sind aber die Schilderungen der sozialen Wirklichkeit des Landes. Die große Mehrheit der Mexikaner schuftet sich ab, ohne jemals auch nur in die Nähe eines sorgenfreien Lebens kommen zu können. Schlimmer noch – im Krieg zwischen den Drogenbanden und der Regierung stehen sie immer in der Schusslinie. Die Korruption zerfrisst jede staatliche Sicherheit – wer zahlt, schafft an, Gesetze sind Auslegungssache. Mexiko ist ein gespaltenes Land: „12 der 100 reichsten Menschen der Welt sind Mexikaner. Gleichzeitig sind 55 Prozent der mexikanischen Bevölkerung sehr arm. Diese Widersprüche haben nun ihren Siedepunkt erreicht“, erklärte Guillermo Arriaga kürzlich in einem Interview.
Warum man sich die 800 Seiten dann doch gerne antut? Arriaga kann spannend erzählen und bietet auch textlich viel Abwechslung. So lässt er den Bruder der Hauptperson die gemeinsame grausame Jugend erzählen und zwischendurch sind immer Texte von Gefangenen eingestreut, die beim Schreibseminar mitgemacht haben. So erfährt man wie die zu Verbrecher Gewordenen ticken (auch wenn die vermeintlichen Dokumente natürlich viel zu literarisch sind). Marina erzählt in der ersten Person und JC wird auktorial dargestellt.
Und natürlich will man wissen, wie die Geschichte ausgeht – und das verrät der Autor als geschickter Drehbuchschreiber natürlich erst am Schluss. Vielleicht wird der Wälzer ja auch noch ein Film…
Guillermo Arriaga: Das Feuer retten
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel
Klett-Cotta Verlag
ISBN: 978-3-608-98440-8
800 Seiten
€ 28,80