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Wien
Samstag, November 9, 2024

Hör zu!

MANCHMAL MERKT MAN ERST, DASS ETWAS GEFEHLT HAT, WENN ES PLÖTZLICH DA IST.

Um ein naheliegendes Beispiel zu nennen: Seit vor einigen Jahren o ffenbar zig-, wenn nicht hundertausende Menschen entdeckt haben, dass ihnen, ohne dass sie es wussten, ihr ganzes Leben lang beim Konsum weißer Spritzer eine orangerötliche Färbung, eine Zitronenscheibe und der spezifi sche Geschmack von Aperol abgegangen ist, hat sich der Anblick der heimischen Schanigärten massiv verändert. Mir wurde ein ähnliches Aha-Erlebnis unlängst zuteil, und zwar in einer gen Grinzing fahrenden Straßenbahngarnitur der Linie 38.

Vis-à-vis hatte ich einen schon recht alten älteren Herren sitzen, dessen Gesamterscheinung – bürgerlich gepflegt von den schimmernden Maßschuhen über den knitterleinenen Stadtsteirerjanker bis hin zum gepfl egten, sacht nikotingetönten Menjou-Bärtchen – irritierend mit einem spezifischen Outfit-Detail kontrastierte: den mächtigen, offenbar auf volle Lautstärke gedrehten Kop fhörern, die er trug. Obendrein hörte er, gut vernehmlich, auch noch eine Sorte Musik, über die man heute mangels Airplay kaum noch zufällig stolpert: Klassische Militärmärsche. „Bob-bob-bo-bäh! (Tsch!)Bäh-(Tsch!)Bäh- Bäh Bäh Bäh Bäh (Tsch!)“ scholl es kop fhörertypisch frequenzverdünnt aus des bürgerlichen Herren Kopfgegend, und da wurde mir erstmals so richtig klar, dass man in ö ffentlichen Verkehrsmitteln ansonsten eigentlich immer nur von Menschen zum Mithören, ähem, eingeladen wird, die das dreißigste Lebensjahr noch nicht vollendet haben und einen Houseinspirierten Musikstil bevorzugen, der sich grob in die beiden Haupt-Untergruppen „Mpf!Mpf!Mpf!Mpf!“ und „TschkatschiTschkatschiTschkatschiTschkatschi“ teilen lässt. Schon Belästigung durch volkstümliche Weisen der Kampfklasse Gabalier findet im ö ffentlichen Nahverkehr kaum statt, dafür muss man tendenziell eher Taxis oder Amtsstuben aufsuchen. Mit Operette und mongolischem Untertongesang aber wird man ebensowenig konfrontiert wie mit Freejazz, nordafrikanischer Sufi-Musik oder auf Mitlausch-Lautstärke aufgedrehten Hörbüchern.

Ein Mangel an kultureller Pluralität? Mag sein. Aber spätestens, wenn diese musikalischen Randformen zum Bim-Beschallungs-Mainstream aufschließen, werde ich mir in Notwehr ebenfalls Kop fhörer zulegen.

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