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Sonntag, November 10, 2024

Wahrzeichen für eine Musikhauptstadt

Text: Mareike Boysen

Die nun folgende Nummer, sagt Blixa Bargeld, dessen Anzug im Scheinwerferlicht dunkelrot glitzert, sei 1983 in Hamburgs legendärem Hafenklangstudio entstanden. Hardcore-Fans der Einstürzenden Neubauten wissen, was folgen muss: die artfremde Liebeserklärung „Susej“ mit dem manisch wiederholten Refrain „Lass uns nach Hause geh‘n“. Dabei wird die Post- Industrial-Band aus Berlin, der wohl überraschendste Act im Festprogramm der gerade eröffneten Elbphilharmonie, nicht nur für mehrere Zugaben, sondern sogar für ein zweites Konzert zurück auf die Bühne kommen.

Die 20-Uhr-Vorstellung im Großen Saal, der 2.150 Besucher fasst, war innerhalb von Minuten ausverkauft. So liefern die sechs Musiker doppelt, was Bandname und -image seit 37 Jahren versprechen. An der gleichen Stelle, an der am folgenden Tag Fagott- und Oboenspieler der Wiener Philharmoniker Platz nehmen sollen, lässt Perkussionist N. U. Unruh aus einer Riesenschaufel kleinteiligen Metallschrott auf die Bühne rasseln.

Die mitgealterte Zuhörerschaft in den gepolsterten Sitzen mit doppelten Armlehnen headbangt bei seinem Solo auf einem Plastikfass bis zum Migräneanfall. Dass man fürs Eröffnungsprogramm eine Kultband aus der Berliner Undergroundszene engagiert hat, unterstreicht zwei Ansprüche, welche das schließlich 789 Millionen teure und in jeder Hinsicht extravagante Konzerthaus am Hafen von Anbeginn erfüllen sollte. „Elphi“ sei für jeden da, war und ist der Tenor.

Deswegen wurden im Mai 1.000 Freikarten verlost, deswegen hat man einen großen Musikvermittlungsbereich eingerichtet, der vier Mitmachorchester und etliche Workshops auf 5-€-Basis beherbergt. Die an drei Seiten von Wasser umflossene Westspitze der HafenCity, des derzeit größten innerstädtischen Stadtentwicklungsprogramms Europas, ist für Besucher leicht öffentlich erreichbar. Auf die Plaza im achten Stock und den ums Gebäude führenden Balkon gelangen diese auch ohne Konzertticket. Und spätestens dort stellt sich ein, was mit dem zweiten Anspruch der Planer einhergeht: das große Staunen über die hochkomplexe Architektur des Schweizer Büros Herzog & de Meuron, die Verwunderung über den kapselförmigen, schalltechnisch entkoppelten Großen Saal, den Akustik-Weltstar Yasuhisa Toyota verkleidete.

Das auf den backsteinroten Kaispeicher A aufgesetzte Gebäude, das die äußere Form einer sich aufbäumenden Welle hat, soll für die ganze Welt sichtbar werden lassen: Hamburg, das seit 15 Jahren den „König der Löwen“ in einem täglich ausverkauften Theater im Hafen spielt, wo in den frühen 1960er-Jahren die bis dato unbekannten Beatles groß wurden, wo Komponisten wie Telemann, Brahms und Mahler wirkten, versteht sich längst als Musikhauptstadt. Und das kann auch Berlin wissen.

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