Helmut Schneiders Buchtipp fürs Wochenende – oder einfach nur so: Bernhard Schlinks „Die Enkelin“.
Bernhard Schlink gelang etwas, das deutsch geschriebener Literatur nur selten gelingt, nämlich 1995 mit „Der Vorleser“ ein absoluter Weltbestseller. Trotzdem blieb der 1944 geborene Deutsche seinem eigentlichen Beruf – Verfassungsrichter – treu. Literarisch behandelt Schlink vor allem deutsche, zeithistorische Themen. So auch in seinem neuesten Roman „Die Enkelin“.
Im Zentrum steht der Berliner Buchhändler Kaspar, dessen Frau Birgit sich gerade das Leben genommen hat. Erst jetzt – mit Mitte 70 – erfährt er aus ihren zurückgelassenen Aufzeichnungen, was vielleicht ihre gesamte Ehe belastet hatte. Birgit war nämlich immer unzufriedener geworden und hatte sich mehr und mehr mit Sekt und Wein getröstet, wenn nicht betäubt. Die beiden hatten sich 1964 in Ostberlin kennengelernt und da Birgit nicht wollte, dass er in den Osten übersiedelt, organisierte er ihre Flucht mit gefälschten Papieren über Prag und Wien nach Berlin. Was Kaspar aber erst jetzt erfährt: Birgit war schon von einem Mann, den sie mehr und mehr verabscheute, schwanger gewesen und ließ ihre neugeborene Tochter zurück. Und jetzt bringt Kaspar schließlich jenen Mut auf, der Birgit gefehlt hatte und macht sich in der heutigen Gegenwart auf die Suche nach dieser Tochter.
Misstrauen
Er findet die vormals Drogensüchtige in einem Dorf nahe Güstrow, also im ehemaligen Osten, und in einer Gemeinschaft von völkischen, deutschnationalen Siedlern. Das Misstrauen ist natürlich gegenseitig, aber als Kaspar seine 14-jährige Stiefenkeltochter Sigrun kennenlernt, beschließt er zu versuchen, sie irgendwie aus diesem Milieu zu „retten“. Durch finanzielle Zuwendungen an die Familie erkauft sich Kaspar einige Aufenthalte seiner Enkelin in seiner großen Wohnung in Berlin. Sie gehen gemeinsam ins Konzert, ins Museum, in seine Buchhandlung und in Restaurants – alles Premieren für die völkisch erzogene Sigrun. Aber wie wird das Mädchen auf dieses Übermaß an internationaler – „undeutscher“ –Kultur reagieren?
Schlinks neuer Roman liest sich spannend, das Thema der deutschnationalen Siedler, die im Osten Bauernhöfe aufkaufen, Julfeiern und deutsche Feste abhalten, mutig. Wieweit diese Szene authentisch beschrieben wird, lässt sich schwer sagen – insgesamt kommt sie mir aber etwas zu harmlos vor. Vor allem der Ausländerhass scheint zu wenig präsent, auch wenn natürlich der Kebab-Stand am Ortsrand abgefackelt wird. Schlinks Abrechnung mit den Deutschnationalen ist aber auf jeden Fall äußerst kurzweilig und legt den Finger in eine große Wunde in unserem Nachbarland.
Bernhard Schlink: Die Enkelin
Diogenes
ISBN: 978-3-257-07181-8
380 Seiten
€ 25,70